What the F*ck ist die Rolle der Performancefigur?
Ganz besonders faszinieren mich bei meiner Volkstanzrecherche die Kostüme und Masken der Tänzer*innen. Ja, um ganz ehrlich zu sein, wenn das Kostüm mir gefällt, finde ich meist auch den Volkstanz gut. Die Farben, Musterungen und Glitzeraccessoires der Kostüme, ja, das ist es, was mich in den Bann zieht.
Weil ich die Kostüme so toll finde, fange ich an zu recherchieren, wo es sie gibt. Schnell stellt sich heraus, dass mal eben bei Amazon bestellen nicht geht. Das Kostüm, das ich so toll finde, ist nicht nur Stoff und Tüll. Kostüme schmücken Menschen. Ja, aber das ist nicht alles - das Kostüm umhüllt einen Körper und kreiert eine Figur. Ich merke schnell: Die Kostüme sind kulturell konnotierte Accessoires, die nicht mal eben übergestülpt werden können. „Kostüme“ sind strenggenommen ein unzutreffender Begriff. Sie sind z.B. das, was Kinder an Fasching tragen. Indem wir kulturspezifische Kleidungsarten in die gleiche Kategorie einordnen, laufen wir Gefahr, aus den Volkstanzenden "bunte ethnische Eingeborene" zu machen.
Während ich mir die oft fast virtuos anmutenden, detailliert geschmückten „kostümierten“ Figuren in den Volkstanzvideos anschaue, beschleicht mich langsam ein merkwürdiges Gefühl. Vielleicht weil alle immer lächeln. Ich fange an, mich zu fragen, ob die Tanzfiguren bestimmte Rollen performen. Vielleicht „die Glücklichen“? Nein, jetzt im Ernst: Was ist die performative Rolle dieser Figuren? Sind sie ein gesellschaftliches Spiegelbild oder eher ein virtuoses Ideal?
Der Körper und die Identitäten im Volkstanz
Der Körper ist im Volkstanz zentrales Ausdruckmittel. Neben mehr oder weniger attraktiven Tanzschritten wird der Körper in Szene gesetzt, um Herkunft und gesellschaftliche Norm zum Ausdruck zu bringen. Der Körper ist hier quasi das Interface. Er wird zur Figur, zu einer Mischung aus kulturellem bzw. gesellschaftlichem Spiegelbild und zur Selbstdarstellung nach außen.
Während ich mich durch die verschiedenen Volkstanzvideos klicke, bekomme ich bei der Fülle an virtuosen Kostümkombinationen manchmal den Eindruck, dass der Volkstanzclip wie eine Identitäts-TV-Doku funktioniert. Mir kommt der Volkstanz vor wie der Präsentationsrahmen einer Kultur und ihrer vermeintlichen Identität, alles zusammengefasst in einem 5-Minuten-Clip. Hinter fast jedem Kostüm, Tanzschritt und jeder choreographischen Anordnung steckt ein kodiertes Kulturalphabet. Sie beinhalten politische Implikationen, weisen auf performative Rollenbilder, auf das Verhältnis von Individuum und Gruppe und sind in einem kulturellen Kontext eingebettet.
Kleidung und Masken als Identitätsform
Die Identitäten und Rollen der Performer*innen in den verschiedenen Volkstänzen sind multipel und vielschichtig. Sie sind so unterschiedlich wie die kulturellen Kontexte selbst, in denen sie stattfinden.
Unser erster Blick zur Katalogisierung von Menschen fällt doch immer auf die äußere Erscheinung: den Körper (in meinem Fall beim Volkstanzvideos gucken auf die Glitzeraccessoires und Farben der Kostüme). Was mir bei den Volkstanz-clips als erstes auffällt, ist die einheitliche Bekleidung der Performer*innen. Diese Bekleidung nennt man Volkstracht. Die „Tracht“, wie der Duden es definiert, folgt einer überlieferten Kleiderordnung. Im engeren Sinne wird das Wort für traditionelle, historische oder regionaltypische Modegebraucht. Der Begriff „Tracht“, im Deutschen von althochdeutsch draht(a), mittelniederdeutsch dracht „das, was getragen wird“ oder „die Art, wie es getragen wird“ bezeichnet, die gesamte Ausstattung, die am Körper getragen wird. [1] Dazu gehören Kleidung, Schmuck, Frisur, Schminke, Accessoires und Insignien. Die Tracht zeigt die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Damit wird eine gemeinsame kulturelle Identität und gleichzeitig eine Abgrenzung zu Anderen geschaffen. [2]
Heute gibt es so etwas nicht mehr. Zumindest nicht in meinem Umfeld. Heute gibt es nur noch Dresscodes: Bestimmte Kleider werden in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten aufgrund von Konventionen, gesellschaftlichem Konsens oder aus dem Bedürfnis nach Konformität getragen. Das hat genauso stereotypen Charakter und endet in der Außenwahrnehmung und -beschreibung nicht selten im Klischee: Punk – Gothic - Hippie! Subkulturell, intellektuell politisch verortete Gruppierungen entwickeln heute eigene Kleiderordnungen. Diese Kleiderordnungen unterscheiden sich vom allgemeinen Standard jenseits der Gruppe und machen die Zugehörigkeit zur Gruppe nach außen und nach innen kenntlich. [3]
Neben der Kleidung gibt es im Volkstanz auch oft Masken. Ihrem Ursprung nach sind Masken vor dem Gesicht getragene plastische Gebilde. Die Bezeichnung Maske wird aber allgemein auch für eine Verhüllung des Körpers in Form einer „Ganzkörpermaske“ verwendet. Eine Maske kann sehr unterschiedliche Aufgaben in verschiedenen Zusammenhängen erfüllen. So kann sich zum Beispiel ihr*e Träger*in mit ihrer Hilfe in eine dargestellte Figur verwandeln.[3] Im senegalesischen Tanz wie dem Kumpo wird der Träger einer Maske nicht einfach als verkleideter Mensch angesehen, sondern im Bewusstsein der am Ritual teilnehmenden Personen als der angesprochene Geist oder Ahn selbst. [4]
Heute bezeichnen wir in unserer Alltagssprache als Maske meist lediglich den Raum im Theater, in dem die Schauspieler*innen geschminkt, frisiert und verkleidet werden. [5] Abgesehen von ein paar exzentrischen Ausnahmen wie Marylin Manson sind unsere Masken heute eher unscheinbar.
Performativität der Figur
Im antiken Theater bezog sich die Schauspielmaske und damit auch das Kostüm auf den Begriff Persona(griechisch „Gesicht“). Das Wort Persona bezeichnet hier eine Art „Kleidung“ des Ichs. Die Maske wird hier als „Ausdruck einer typisierten Rolle verstanden. Sie ist damit nicht nur materielle Verkleidung oder visuelles Symbol, sondern existiert auch immateriell in Form von performativer Inszenierung.“ [6] Auch im Volkstanz ist die Maske nicht immer unbedingt in materieller Form „sichtbar“. Die Maske, ob als materielle oder immaterielle, spielt im Volkstanz eine große Rolle. Die „Maske“ erlaubt es, performative Rollen und soziale Formen des Auftretens einzunehmen. Sie kann als Inszenierung einer Person oder Gruppe dazu genutzt werden, Idealvorstellungen eines gesellschaftlichen Bildes zu projizieren.
Die Persona ist quasi wie ein unsichtbares Kostüm. Sie ist das Bild das wir nach außen portraitieren wollen, oder vielleicht auch vermarkten wollen. Die Persona ist zu verstehen, wie ein Facebook oder Instagram Account, wo man nur ein paar Bilder und Schnappschüsse nach außen hin zeigt. Die Maske, die wir draußen in der Öffentlichkeit im Umgang mit Menschen in unserem sozialen Umfeld tragen, ist eine Rolle in die wir schlüpfen können. Einer Mischung aus den Anforderungen unseres sozialen Umfeldes, also der Gesellschaft und den Wünschen wie du, du und deine Gruppe oder das Wir einer Nation (Volkstanzgruppe) nach außen Erscheinen möchten. Die Grenzen zwischen Maske, Kostüm und authentischer Identität sind dabei fluide und nicht klar differenzierbar, sondern vielmehr in- und miteinander verwoben.
Wenn wir eine Person „kostümieren“, wird sie zur Figur (aka Fasching). Figuren (lat. figura, „Gestalt“), wie Google mir ausspuckt, sind erfundene Wesen, die durch fiktionale Medienangebote dargestellt werden, etwa durch mündliche Erzählungen, Gemälde, Romane oder Filme. Dabei kann es sich um menschliche Personen handeln, aber auch um Tiere wie Lassie der Hund, um künstliche Mischformen oder übernatürliche Gestalten wie Götter. [7]
Das entscheidende Merkmal einer Figur, so steht es bei Google weiter, ist ihre Fähigkeit zu einem Innenleben (zu mentalen Prozessen wie Denken, Fühlen, Wollen usw.) und meist auch zum Handeln innerhalb einer dargestellten Welt. [8] Das Krümelmonster aus der Sesamstraße will z.B. Kekse. Die projizierte Figur im Volkstanzvideo ist hingegen etwas komplexer gestrickt: Im Volkstanz definiert sich die Figur der Performernden durch ihre Kleidung, Requisiten, ihre Rolle als Individuum wie auch durch ihre Rolle als Teil der Gruppe. Die einzelnen Personen werden zu Figuren einer choreographischen Konstellation, die eine Gruppe bilden.
Aber was will die Gruppe mir sagen? Und was ist die Rolle der Figuren innerhalb der Gruppe?
Die Figuren in meinem Volkstanzclip definieren Identitäten. Identitäten zu definieren, bedeutet die Merkmale und das Selbstverständnis, das von der Gruppe oder den Individuen als wesentlich erachtet wird, zu bezeichnen.
Der Volkstanz spiegelt in einer ästhetischen Dimension soziale Arrangements wieder. Seine Dynamik, Materialien, Rahmungen und Austauschprozesse zwischen Akteur*innen und Zuschauenden sowie die Körperlichkeit, Dramaturgie und Inszenierung der Tänze konstruieren und erschaffen ein Bild einer Kultur. Der Volkstanz ist in seinem 5-Minuten- Videoclip auf YouTube die Inszenierung einer Kultur.
Performativität heute und gestern
Heute leben, wie Schechner es beschreibt, die Menschen wie nie zuvor mittels Performance. Damit ist in erster Linie nicht unbedingt das Theater, sondern der Alltag gemeint. Performativität umfasst heute wie gestern, so folgert er weiter, die Konstruktion von sozialer Realität. [9] Performativität bedeutet, dass durch Handlung Wirklichkeit verändert, gar konstituiert wird, sagt Pfeiffer. [10] Performativität laut Schechner überall – ob mit oder ohne Maske, Tracht oder Dresscode.
Genderrollen und situationsspezifische Verhaltensweisen, so beschreibt er, regeln alle sozialen Interaktionen, ob in Form von Konventionen oder Regeln. Die Rollen und die Regeln variieren von Ort zu Ort, von Umstand zu Umstand und von Gesellschaft zu Gesellschaft. Sie verändern sich durch den kulturellen Zeitgeist und durch politische Implikationen. [11]
Dabei kommt mir persönlich die eine oder andere Figur in den Volkstanzvideos nicht weniger wie ein/e projizierte/r Superheld*in vor, als die/der eine oder andere Instagram- Influencer*in. Die gerahmte Präsentation eines Volkes in Form eines Volkstanzclips auf YouTube oder dem privaten Instagram-Account hebt Identitäten hervor, profiliert charakterlich-spezifische Attribute und Qualitäten. Die Idee des virtuosen Idealbildes bleibt heute wie gestern präsent. Sicherlich hat sich dabei die Rahmung und Form der Präsentation grundlegend geändert.
Beauvoir behauptet: „Der Körper ist eine historische Situation“. [12] Butler vergleicht gesellschaftlich performte Geschlechterrollen ganz konkret mit einstudierten Theateraufführungen. Dabei bezieht sich Butler auf die Metapher "all the world is a stage". [13]
Heute befindet sich ein großer Teil der Bühne in der Cloud des Internets. Heute haben wir Apps. Die beliebtesten dabei sind die, bei denen es um Selbstdarstellung geht. Selbstdarstellung hat es schon immer gegeben. Statt in Form von Höhlenmalerei oder Volkstanz broadcasten wir uns selbst auf YouTube, Instagram, TikTok, Facebook etc.
Aber wieso das Ganze? Generell ist die soziale Anerkennung, wie Roman Marek beschreibt, ein grundsätzliches Bedürfnis, denn der Mensch ist ein soziales Wesen auf der Suche nach Bestätigung – ständig bestrebt, sich mit den Augen anderer zu bewerten, um sich so in einer Gruppe zu positionieren und seine Selbstachtung bestätigt zu sehen. [14] Während in vergangenen Epochen noch mit Hilfe von Traditionen wie Volkstänzen das Bild des „Selbst“ und der „eigenen Gruppe“ über Generationen gepflegt und bewahrt wurde, sieht das Ganze heute etwas anders aus: Im Volkstanz tanzen wir zusammen. Gemeinsame Sinnlichkeit, Rausch, Trance! Der Volkstanz ist Lust, Spaß, kollektives Erleben. Heute finden auf den meisten Marktplätzen keine Volkstänze mehr statt, die uns ein Gruppengefühl geben und mit deren Hilfe wir uns unserer Existenz und Zugehörigkeit vergewissern können. Heute haben wir Plattformen wie Instagram und TikTok. Auch hier kann man zusammen sein, Spaß haben und sogar kollektiv in Form einer TikTok Dance Challenge wie Jeruslema [15] etwas erleben. Nur halt anders. Und das Verhältnis von Individuum und Gruppe hat sich hier sicherlich grundlegend geändert. Heute identifizieren und konstituieren sich Gemeinschaften durch Dresscode-Peergroups, Followers und Communities in der Cloud des Internets. Aber auch hier geht es genauso wie beim Volkstanz um die Identifikation mit und Abgrenzung von Anderen, um idealisierte Vorstellungs- und Rollenbilder, wie es auch der Netflix Film Das Dilemma mit den sozialen Medien eindrücklich veranschaulicht. In der medialen Öffentlichkeit können wir uns beständig unserer Existenz vergewissern. Soziale Anerkennung gibt es durch LIKES. [16] Jede*r User*in kann sich in der Cloud der Möglichkeiten performativ konstituieren. Dabei spielen How-to-be-Lebensstil-Ideale (z.B. mit den richtigen Turnschuhen), die sich aus der Community speisen, eine große Rolle. Es entsteht ein medial beschleunigter Rausch, ähnlich wie im Volkstanz, in dem man als Community zusammen sein und etwas erleben will.
Ob zurückblickend durch das Fenster der Vergangenheit oder aber auf das Hier und Jetzt schauend: Am Ende zeichnet sich ab, dass Identitätsrealitäten performativ community-basiert sind. Das bedeutet, dass sie nur insoweit real sind, wie sie „aufgeführt“ werden. So etwas, wie ein nicht aufgeführtes oder natürlich vorkommendes Leben gibt es einfach nicht. Ein/e Jede/r performt ihre/seine soziale Rolle oder ihr/sein Geschlecht in Übereinstimmung mit bereits eingeschriebenen oder daran angelehnten Performativen. Ob als Individuum oder Volkstanzgruppe.
Die Rolle der Figur heute & morgen
Identitäten kontextualisieren sich in den Gesellschaftsformen der Zeitepochen. Die Darstellung der Figur ist immer mit den Idealen von gesellschaftlichen Systemen verknüpft. Somit ist die Frage nach der Rolle der Figur wohl immer untrennbar mit der Frage des gesellschaftlichen Systems verknüpft.
Volkstänze, genau wie die Scheinwelt auf Instagram, haben das Potenzial, eine Simulation eines perfekten Ideals darzustellen. Die individuelle private Selbstdarstellung wie auch die projizierte Darstellung einer Gruppe, Volk oder Nation nach außen, eröffnen viele grundlegende gesellschaftspolitische Fragen. Wir sollten uns vielleicht einen Moment nehmen, auf uns selbst blicken und uns fragen: Welche Körperfiguren sind heute der Standard? Was sind die Körperbilder und gesellschaftlichen How-to-be-Ideale von heute, ob im Netz, auf der Bühne oder auf meinem Kiez nebenan, und sind das wirklich die Ideale, die uns als Gesellschaft weiterbringen?
[1] Duden Lexikon, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://www.duden.de/rechtschreibung/Tracht
[2] Wikipedia, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Tracht_(Kleidung)
[3] Wikipedia, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Kleiderordnung
[4] On the trail of the mythical Kumpo of Kanuma, The Gambia,
Letzter Zugriff: 19.03.2021, https://travelwithkat.com/dancing-with-a-kumpo-in-kanuma/
[5] Marek, Roman (2013): Understanding Youtube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld: transcript, S.42.
[6] Wikipedia, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Persona
[7] Vergl. Wikipedia Figur (Fiktion) https://de.wikipedia.org/wiki/Figur_(Fiktion)
[8] Ebd.
[9] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 208/209
[10]Pfeiffere, Malte, Performativität und Kulturelle Bildung, Letzter Zugriff: 24.02.2022 www.kubi-online.de/artikel/performativitaet-kulturelle-bildung
[11] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 210
[12] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 151
[13] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 152.
[14] Marek, Roman (2013): Understanding YouTube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld: transcript, S.42.
[15] YouTube, 10 Best Jerusalema Dance Moves |WORLDWIDE, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=1zl3f6zwc-M
[16] Netflix Film: Das Dilemma mit den sozialen Medien, Letzter Zugriff: 24.02.2022, www.netflix.com
Ganz besonders faszinieren mich bei meiner Volkstanzrecherche die Kostüme und Masken der Tänzer*innen. Ja, um ganz ehrlich zu sein, wenn das Kostüm mir gefällt, finde ich meist auch den Volkstanz gut. Die Farben, Musterungen und Glitzeraccessoires der Kostüme, ja, das ist es, was mich in den Bann zieht.
Weil ich die Kostüme so toll finde, fange ich an zu recherchieren, wo es sie gibt. Schnell stellt sich heraus, dass mal eben bei Amazon bestellen nicht geht. Das Kostüm, das ich so toll finde, ist nicht nur Stoff und Tüll. Kostüme schmücken Menschen. Ja, aber das ist nicht alles - das Kostüm umhüllt einen Körper und kreiert eine Figur. Ich merke schnell: Die Kostüme sind kulturell konnotierte Accessoires, die nicht mal eben übergestülpt werden können. „Kostüme“ sind strenggenommen ein unzutreffender Begriff. Sie sind z.B. das, was Kinder an Fasching tragen. Indem wir kulturspezifische Kleidungsarten in die gleiche Kategorie einordnen, laufen wir Gefahr, aus den Volkstanzenden "bunte ethnische Eingeborene" zu machen.
Während ich mir die oft fast virtuos anmutenden, detailliert geschmückten „kostümierten“ Figuren in den Volkstanzvideos anschaue, beschleicht mich langsam ein merkwürdiges Gefühl. Vielleicht weil alle immer lächeln. Ich fange an, mich zu fragen, ob die Tanzfiguren bestimmte Rollen performen. Vielleicht „die Glücklichen“? Nein, jetzt im Ernst: Was ist die performative Rolle dieser Figuren? Sind sie ein gesellschaftliches Spiegelbild oder eher ein virtuoses Ideal?
Der Körper und die Identitäten im Volkstanz
Der Körper ist im Volkstanz zentrales Ausdruckmittel. Neben mehr oder weniger attraktiven Tanzschritten wird der Körper in Szene gesetzt, um Herkunft und gesellschaftliche Norm zum Ausdruck zu bringen. Der Körper ist hier quasi das Interface. Er wird zur Figur, zu einer Mischung aus kulturellem bzw. gesellschaftlichem Spiegelbild und zur Selbstdarstellung nach außen.
Während ich mich durch die verschiedenen Volkstanzvideos klicke, bekomme ich bei der Fülle an virtuosen Kostümkombinationen manchmal den Eindruck, dass der Volkstanzclip wie eine Identitäts-TV-Doku funktioniert. Mir kommt der Volkstanz vor wie der Präsentationsrahmen einer Kultur und ihrer vermeintlichen Identität, alles zusammengefasst in einem 5-Minuten-Clip. Hinter fast jedem Kostüm, Tanzschritt und jeder choreographischen Anordnung steckt ein kodiertes Kulturalphabet. Sie beinhalten politische Implikationen, weisen auf performative Rollenbilder, auf das Verhältnis von Individuum und Gruppe und sind in einem kulturellen Kontext eingebettet.
Kleidung und Masken als Identitätsform
Die Identitäten und Rollen der Performer*innen in den verschiedenen Volkstänzen sind multipel und vielschichtig. Sie sind so unterschiedlich wie die kulturellen Kontexte selbst, in denen sie stattfinden.
Unser erster Blick zur Katalogisierung von Menschen fällt doch immer auf die äußere Erscheinung: den Körper (in meinem Fall beim Volkstanzvideos gucken auf die Glitzeraccessoires und Farben der Kostüme). Was mir bei den Volkstanz-clips als erstes auffällt, ist die einheitliche Bekleidung der Performer*innen. Diese Bekleidung nennt man Volkstracht. Die „Tracht“, wie der Duden es definiert, folgt einer überlieferten Kleiderordnung. Im engeren Sinne wird das Wort für traditionelle, historische oder regionaltypische Modegebraucht. Der Begriff „Tracht“, im Deutschen von althochdeutsch draht(a), mittelniederdeutsch dracht „das, was getragen wird“ oder „die Art, wie es getragen wird“ bezeichnet, die gesamte Ausstattung, die am Körper getragen wird. [1] Dazu gehören Kleidung, Schmuck, Frisur, Schminke, Accessoires und Insignien. Die Tracht zeigt die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Damit wird eine gemeinsame kulturelle Identität und gleichzeitig eine Abgrenzung zu Anderen geschaffen. [2]
Heute gibt es so etwas nicht mehr. Zumindest nicht in meinem Umfeld. Heute gibt es nur noch Dresscodes: Bestimmte Kleider werden in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten aufgrund von Konventionen, gesellschaftlichem Konsens oder aus dem Bedürfnis nach Konformität getragen. Das hat genauso stereotypen Charakter und endet in der Außenwahrnehmung und -beschreibung nicht selten im Klischee: Punk – Gothic - Hippie! Subkulturell, intellektuell politisch verortete Gruppierungen entwickeln heute eigene Kleiderordnungen. Diese Kleiderordnungen unterscheiden sich vom allgemeinen Standard jenseits der Gruppe und machen die Zugehörigkeit zur Gruppe nach außen und nach innen kenntlich. [3]
Neben der Kleidung gibt es im Volkstanz auch oft Masken. Ihrem Ursprung nach sind Masken vor dem Gesicht getragene plastische Gebilde. Die Bezeichnung Maske wird aber allgemein auch für eine Verhüllung des Körpers in Form einer „Ganzkörpermaske“ verwendet. Eine Maske kann sehr unterschiedliche Aufgaben in verschiedenen Zusammenhängen erfüllen. So kann sich zum Beispiel ihr*e Träger*in mit ihrer Hilfe in eine dargestellte Figur verwandeln.[3] Im senegalesischen Tanz wie dem Kumpo wird der Träger einer Maske nicht einfach als verkleideter Mensch angesehen, sondern im Bewusstsein der am Ritual teilnehmenden Personen als der angesprochene Geist oder Ahn selbst. [4]
Heute bezeichnen wir in unserer Alltagssprache als Maske meist lediglich den Raum im Theater, in dem die Schauspieler*innen geschminkt, frisiert und verkleidet werden. [5] Abgesehen von ein paar exzentrischen Ausnahmen wie Marylin Manson sind unsere Masken heute eher unscheinbar.
Performativität der Figur
Im antiken Theater bezog sich die Schauspielmaske und damit auch das Kostüm auf den Begriff Persona(griechisch „Gesicht“). Das Wort Persona bezeichnet hier eine Art „Kleidung“ des Ichs. Die Maske wird hier als „Ausdruck einer typisierten Rolle verstanden. Sie ist damit nicht nur materielle Verkleidung oder visuelles Symbol, sondern existiert auch immateriell in Form von performativer Inszenierung.“ [6] Auch im Volkstanz ist die Maske nicht immer unbedingt in materieller Form „sichtbar“. Die Maske, ob als materielle oder immaterielle, spielt im Volkstanz eine große Rolle. Die „Maske“ erlaubt es, performative Rollen und soziale Formen des Auftretens einzunehmen. Sie kann als Inszenierung einer Person oder Gruppe dazu genutzt werden, Idealvorstellungen eines gesellschaftlichen Bildes zu projizieren.
Die Persona ist quasi wie ein unsichtbares Kostüm. Sie ist das Bild das wir nach außen portraitieren wollen, oder vielleicht auch vermarkten wollen. Die Persona ist zu verstehen, wie ein Facebook oder Instagram Account, wo man nur ein paar Bilder und Schnappschüsse nach außen hin zeigt. Die Maske, die wir draußen in der Öffentlichkeit im Umgang mit Menschen in unserem sozialen Umfeld tragen, ist eine Rolle in die wir schlüpfen können. Einer Mischung aus den Anforderungen unseres sozialen Umfeldes, also der Gesellschaft und den Wünschen wie du, du und deine Gruppe oder das Wir einer Nation (Volkstanzgruppe) nach außen Erscheinen möchten. Die Grenzen zwischen Maske, Kostüm und authentischer Identität sind dabei fluide und nicht klar differenzierbar, sondern vielmehr in- und miteinander verwoben.
Wenn wir eine Person „kostümieren“, wird sie zur Figur (aka Fasching). Figuren (lat. figura, „Gestalt“), wie Google mir ausspuckt, sind erfundene Wesen, die durch fiktionale Medienangebote dargestellt werden, etwa durch mündliche Erzählungen, Gemälde, Romane oder Filme. Dabei kann es sich um menschliche Personen handeln, aber auch um Tiere wie Lassie der Hund, um künstliche Mischformen oder übernatürliche Gestalten wie Götter. [7]
Das entscheidende Merkmal einer Figur, so steht es bei Google weiter, ist ihre Fähigkeit zu einem Innenleben (zu mentalen Prozessen wie Denken, Fühlen, Wollen usw.) und meist auch zum Handeln innerhalb einer dargestellten Welt. [8] Das Krümelmonster aus der Sesamstraße will z.B. Kekse. Die projizierte Figur im Volkstanzvideo ist hingegen etwas komplexer gestrickt: Im Volkstanz definiert sich die Figur der Performernden durch ihre Kleidung, Requisiten, ihre Rolle als Individuum wie auch durch ihre Rolle als Teil der Gruppe. Die einzelnen Personen werden zu Figuren einer choreographischen Konstellation, die eine Gruppe bilden.
Aber was will die Gruppe mir sagen? Und was ist die Rolle der Figuren innerhalb der Gruppe?
Die Figuren in meinem Volkstanzclip definieren Identitäten. Identitäten zu definieren, bedeutet die Merkmale und das Selbstverständnis, das von der Gruppe oder den Individuen als wesentlich erachtet wird, zu bezeichnen.
Der Volkstanz spiegelt in einer ästhetischen Dimension soziale Arrangements wieder. Seine Dynamik, Materialien, Rahmungen und Austauschprozesse zwischen Akteur*innen und Zuschauenden sowie die Körperlichkeit, Dramaturgie und Inszenierung der Tänze konstruieren und erschaffen ein Bild einer Kultur. Der Volkstanz ist in seinem 5-Minuten- Videoclip auf YouTube die Inszenierung einer Kultur.
Performativität heute und gestern
Heute leben, wie Schechner es beschreibt, die Menschen wie nie zuvor mittels Performance. Damit ist in erster Linie nicht unbedingt das Theater, sondern der Alltag gemeint. Performativität umfasst heute wie gestern, so folgert er weiter, die Konstruktion von sozialer Realität. [9] Performativität bedeutet, dass durch Handlung Wirklichkeit verändert, gar konstituiert wird, sagt Pfeiffer. [10] Performativität laut Schechner überall – ob mit oder ohne Maske, Tracht oder Dresscode.
Genderrollen und situationsspezifische Verhaltensweisen, so beschreibt er, regeln alle sozialen Interaktionen, ob in Form von Konventionen oder Regeln. Die Rollen und die Regeln variieren von Ort zu Ort, von Umstand zu Umstand und von Gesellschaft zu Gesellschaft. Sie verändern sich durch den kulturellen Zeitgeist und durch politische Implikationen. [11]
Dabei kommt mir persönlich die eine oder andere Figur in den Volkstanzvideos nicht weniger wie ein/e projizierte/r Superheld*in vor, als die/der eine oder andere Instagram- Influencer*in. Die gerahmte Präsentation eines Volkes in Form eines Volkstanzclips auf YouTube oder dem privaten Instagram-Account hebt Identitäten hervor, profiliert charakterlich-spezifische Attribute und Qualitäten. Die Idee des virtuosen Idealbildes bleibt heute wie gestern präsent. Sicherlich hat sich dabei die Rahmung und Form der Präsentation grundlegend geändert.
Beauvoir behauptet: „Der Körper ist eine historische Situation“. [12] Butler vergleicht gesellschaftlich performte Geschlechterrollen ganz konkret mit einstudierten Theateraufführungen. Dabei bezieht sich Butler auf die Metapher "all the world is a stage". [13]
Heute befindet sich ein großer Teil der Bühne in der Cloud des Internets. Heute haben wir Apps. Die beliebtesten dabei sind die, bei denen es um Selbstdarstellung geht. Selbstdarstellung hat es schon immer gegeben. Statt in Form von Höhlenmalerei oder Volkstanz broadcasten wir uns selbst auf YouTube, Instagram, TikTok, Facebook etc.
Aber wieso das Ganze? Generell ist die soziale Anerkennung, wie Roman Marek beschreibt, ein grundsätzliches Bedürfnis, denn der Mensch ist ein soziales Wesen auf der Suche nach Bestätigung – ständig bestrebt, sich mit den Augen anderer zu bewerten, um sich so in einer Gruppe zu positionieren und seine Selbstachtung bestätigt zu sehen. [14] Während in vergangenen Epochen noch mit Hilfe von Traditionen wie Volkstänzen das Bild des „Selbst“ und der „eigenen Gruppe“ über Generationen gepflegt und bewahrt wurde, sieht das Ganze heute etwas anders aus: Im Volkstanz tanzen wir zusammen. Gemeinsame Sinnlichkeit, Rausch, Trance! Der Volkstanz ist Lust, Spaß, kollektives Erleben. Heute finden auf den meisten Marktplätzen keine Volkstänze mehr statt, die uns ein Gruppengefühl geben und mit deren Hilfe wir uns unserer Existenz und Zugehörigkeit vergewissern können. Heute haben wir Plattformen wie Instagram und TikTok. Auch hier kann man zusammen sein, Spaß haben und sogar kollektiv in Form einer TikTok Dance Challenge wie Jeruslema [15] etwas erleben. Nur halt anders. Und das Verhältnis von Individuum und Gruppe hat sich hier sicherlich grundlegend geändert. Heute identifizieren und konstituieren sich Gemeinschaften durch Dresscode-Peergroups, Followers und Communities in der Cloud des Internets. Aber auch hier geht es genauso wie beim Volkstanz um die Identifikation mit und Abgrenzung von Anderen, um idealisierte Vorstellungs- und Rollenbilder, wie es auch der Netflix Film Das Dilemma mit den sozialen Medien eindrücklich veranschaulicht. In der medialen Öffentlichkeit können wir uns beständig unserer Existenz vergewissern. Soziale Anerkennung gibt es durch LIKES. [16] Jede*r User*in kann sich in der Cloud der Möglichkeiten performativ konstituieren. Dabei spielen How-to-be-Lebensstil-Ideale (z.B. mit den richtigen Turnschuhen), die sich aus der Community speisen, eine große Rolle. Es entsteht ein medial beschleunigter Rausch, ähnlich wie im Volkstanz, in dem man als Community zusammen sein und etwas erleben will.
Ob zurückblickend durch das Fenster der Vergangenheit oder aber auf das Hier und Jetzt schauend: Am Ende zeichnet sich ab, dass Identitätsrealitäten performativ community-basiert sind. Das bedeutet, dass sie nur insoweit real sind, wie sie „aufgeführt“ werden. So etwas, wie ein nicht aufgeführtes oder natürlich vorkommendes Leben gibt es einfach nicht. Ein/e Jede/r performt ihre/seine soziale Rolle oder ihr/sein Geschlecht in Übereinstimmung mit bereits eingeschriebenen oder daran angelehnten Performativen. Ob als Individuum oder Volkstanzgruppe.
Die Rolle der Figur heute & morgen
Identitäten kontextualisieren sich in den Gesellschaftsformen der Zeitepochen. Die Darstellung der Figur ist immer mit den Idealen von gesellschaftlichen Systemen verknüpft. Somit ist die Frage nach der Rolle der Figur wohl immer untrennbar mit der Frage des gesellschaftlichen Systems verknüpft.
Volkstänze, genau wie die Scheinwelt auf Instagram, haben das Potenzial, eine Simulation eines perfekten Ideals darzustellen. Die individuelle private Selbstdarstellung wie auch die projizierte Darstellung einer Gruppe, Volk oder Nation nach außen, eröffnen viele grundlegende gesellschaftspolitische Fragen. Wir sollten uns vielleicht einen Moment nehmen, auf uns selbst blicken und uns fragen: Welche Körperfiguren sind heute der Standard? Was sind die Körperbilder und gesellschaftlichen How-to-be-Ideale von heute, ob im Netz, auf der Bühne oder auf meinem Kiez nebenan, und sind das wirklich die Ideale, die uns als Gesellschaft weiterbringen?
[1] Duden Lexikon, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://www.duden.de/rechtschreibung/Tracht
[2] Wikipedia, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Tracht_(Kleidung)
[3] Wikipedia, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Kleiderordnung
[4] On the trail of the mythical Kumpo of Kanuma, The Gambia,
Letzter Zugriff: 19.03.2021, https://travelwithkat.com/dancing-with-a-kumpo-in-kanuma/
[5] Marek, Roman (2013): Understanding Youtube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld: transcript, S.42.
[6] Wikipedia, Letzter Zugriff: 24.02.2022, https://de.wikipedia.org/wiki/Persona
[7] Vergl. Wikipedia Figur (Fiktion) https://de.wikipedia.org/wiki/Figur_(Fiktion)
[8] Ebd.
[9] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 208/209
[10]Pfeiffere, Malte, Performativität und Kulturelle Bildung, Letzter Zugriff: 24.02.2022 www.kubi-online.de/artikel/performativitaet-kulturelle-bildung
[11] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 210
[12] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 151
[13] Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 152.
[14] Marek, Roman (2013): Understanding YouTube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld: transcript, S.42.
[15] YouTube, 10 Best Jerusalema Dance Moves |WORLDWIDE, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=1zl3f6zwc-M
[16] Netflix Film: Das Dilemma mit den sozialen Medien, Letzter Zugriff: 24.02.2022, www.netflix.com