What the f*ck ist ein Volkstanz?
Was ist überhaupt ein Volkstanz? Wann wird ein Tanz ein Volkstanz oder zum Tanz, der von Volksgruppen getanzt wird?! Wer schreibt fest, was ein Volkstanz ist, und wie the f*ck entsteht ein Volkstanz?
Während meiner Volkstanzrecherche habe ich mich auf YouTube mithilfe dessen Algorithmus durch das Netz gebrowst und mich von einem Volkstanz zum nächsten geklickt. Das Spektrum an Tanzschritten, Farben, Kostümen war schier überwältigend und ich verlor mich mit ausgiebiger Freude darin!
Schnell konnte ich feststellen: Heute wie gestern, zu jeder Zeit, in jedem Teil der Welt und in jeder Kultur kreieren Menschen Tänze und Theater. Volkstänze sind vom Volk überlieferte Tänze. Sie variieren von Ort zu Ort, von Kultur zu Kultur und von Epoche zu Epoche. Sie sind das Ausleben von Geschichten, das Darstellen von vergangenen Ereignissen, Erfahrungen, Erinnerungen, Fantasien, Träumen...
Doch mit jedem meiner Klicks verschwammen die vermeintlich klar unterscheidbaren Kulturen bis ich mich in einem digitalen Smog aus Kategorie-Labyrinthen und vielen Fragezeichen verlor. Ich fing an mich zu fragen: Welcher Tanz gehört zu wem, wo sind die Grenzen und wer bestimmt sie? Gibt es hier Eigentumsrechte? Wann tanzt das Volk, der Volkskörper – und wann tanzt eine Gruppe von Menschen, Leute, also: folks? Menschen wie du und ich, also wir? Und ist meine Arbeit als Choreographin dann auch irgendwie Volkstanz? Die Begrifflichkeiten und Kategorisierungen wurden für mich immer unklarer und verschwommener.
Viele Monate, Bücher und Gespräche später merke ich: Der Begriff Volkstanz ist irgendwie eine problematische und uneindeutige Kategorie. Traditionelle Volkstänze werden heute, zumindest in Europa, meist nur noch in geschützten, traditionsorientierten Communities gelehrt und getanzt. Das Volk tanzt heute, zumindest in meinen kulturellen Kreisen, auf jeden Fall keinen „Volkstanz“ mehr. Stattdessen tanzen wir so etwas wie „Folks-Tanz“ also „Leute- Tanz“: Das, was wir nachts im Club oder in der aktuellen TikTok Dance - Challenge machen, ist aber im Lehrbuch auf jeden Fall nicht als Volkstanz katalogisiert.
Was ist denn jetzt aber ein Volkstanz?
Wenn ich in YouTube umherklicke, bekomme ich deutschen, iranischen oder ukrainischen Tanz in einer Fertigpackung. Darauf skizziert: eine klar formulierte Adresse mit Vor - und Nachnamen wie auf einer Visitenkarte, die das klar umrissene Bild eines Volkes projiziert. Nach ein paar Klicks bröckelt dieses Bild aber wieder. Derselbe Volkstanz erscheint in meiner YouTube Playlist in verschiedenen Versionen und Kopien, mit jeweils anderen Kostümen, variierenden choreographischen Strukturen, Genderrollen und geographischen Verortungen. Nichts stimmt mehr überein!
Der in der Überschrift als vermeintliches Original angezeigte „Deutsche Volkstanz“ zerbröckelt vor meinen Augen. Schnell entpuppt sich, dass das YouTube-Video eine Konstruktion ist. Die fein gerahmte fixed mise en scène meines YouTube Videos, wo dick oben drübersteht „DEUTSCHER VOLKSTANZ“, entpuppt sich als nicht ganz authentisch. Ich bin genervt. Ich suche immer noch den „echten“ Volkstanz. Dann frage ich mich, ob der Volkstanz an sich vielleicht selbst auch nur eine Konstruktion ist, genau wie das YouTube-Video.
Ist der „DEUTSCHE VOLKSTANZ“ also eine Fiktion?
Gehen wir zurück zu den Anfängen der Volkstänze: Die Überlieferung von Volkstänzen erfolgte lange Zeit mündlich. In Europa änderte sich das im Zuge der Industrialisierung, als Volkstänze verschriftlicht und im Folgenden mit dem Buch in der Hand weitervermittelt wurden. Dies markierte einen Bruch in der Traditionslinie des Volkstanzes: Damit entstand nicht nur eine Festschreibung einer an sich dynamischen Kulturpraktik, sondern auch eine Einschreibefläche für ideologische Kodierungen und politische Instrumentalisierungen. [1] Der Volkstanz wurde damit zum Aushängeschild eines ganzen Volkes und bequem einsetzbar für völkische Narrative und der Fiktion eines homogenen Volkes in Abgrenzung zu anderen „Völkern“.
Schaut man genauer hin, entpuppt sich die Nation jedoch schnell als falscher Begriff, um einen Volkstanz zu katalogisieren. Der Volkstanz spiegelt oft kulturelle Regionen und nicht eine ganze Nation wider; er verknüpft sich mit klimatischen und geographischen Aspekten, lokalen Eigenschaften und spezifischen Bewegungen und Kommunikationsarten.
Es stellt sich also die Frage, ob es so etwas wie ein klar definiertes Volk mit einer klar definierten Tanzvisitenkarte überhaupt gibt.
Kann die Antwort in einem Würstchen liegen? Vielleicht nur insofern, als niemand wirklich weiß oder wissen will, was alles unter der Haut steckt. Auch Identität ist eine Art Mettwurst: Neben dem sichtbarsten Bestandteil, dem Fleisch von Land und Familie, steuert eine Menge fremdes Zeug die Würze bei (auch wenn es vielleicht nicht als solches erkannt werden mag). Sie ist bis zum Platzen voll mit unzähligen Geschichten und durchdrungen vom Geschmack der Historie, die stets zugegen ist, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, dem Ich heimlich Aroma verleiht. (Prya Basil S. 44) [2]
Die Antwort auf die Frage nach dem Original, der reinen Fassung, ergibt sich durch dieses Zitat fast von selbst. Das vermeintliche Original ist ein Mélange von kulturellen Pfaden, die sich immer wieder kreuzen und neu verknüpfen können. Damit liegt bereits eine Interkulturalität in den Komponenten, aus denen Volkstänze geformt und den Strukturen, wie Volkstänze entstanden sind.
Welche Sprache spricht der Volkstanz?
Während ich mir die YouTube Videos ansah, habe mich gefragt: Was erzählen uns diese Volkstänze überhaupt, was sind ihre Geschichten? Was erzählen uns die Choreographien mit ihren Mustern, Schritten und Rhythmen über die Gesellschaft? Und was verkörpern die Performer*innen mit ihren hübsch geschmückten Kostümen?
Viele der Volkstänze erzählen Geschichten. Im Volkstanz sind die Bewegungsformen des Tanzes oft mit implizitem Wissen und expliziten Zuschreibungen verbunden. Volkstänze können Kulturtänze, Beschwörungstänze, Kriegstänze oder auch Tiertänze sein. Bei wichtigen Ereignissen wie Jahreszeitenwechsel hat der Volkstanz eine besonders große Bedeutung. Häufig geht es aber um alltägliche Dinge wie die Arbeit verschiedener Handwerksberufe. Dabei werden bäuerliche Vorgänge, wie zum Beispiel Säen, Ernten, Fischen und Spinnen wiedergegeben. Auch Brautwerbung ist ein beliebtes Thema. Oft werden daraus die Namen der Tänze abgeleitet wie beim Blankeneser Fischertanz [3], obwohl es in diesem Tanz eher um das kennenlernen von Männern und Frauen (wahrscheinlich Fischern..) geht oder aber dem iranischen Ghasem abadi [4] Tanz der die Reisernte thematisiert und nach der Region benannt ist. Andere Tänze sind einfach nach der Art der Musik, der Melodie oder dem Takt wie dem ukrainischen Веснянка (Spring Song) benannt [5] oder dem senegalesichen Sabar [6] der nach der Sabar Trommel benannt ist.
Schaut man sich die Volkstänze auf globaler Ebene an, wird deutlich, wie die Kultur in den verschiedenen Formen der Volkstänze zum Ausdruck kommt. Die Autorin Kübra Gümüsay sagt in ihrem Buch Sprache und Sein: „Erst im Vergleich der Sprachen wird deutlich, welche Sicht auf die Welt uns anerzogen wird.“ [7] Nicht viel anders ist es im Volkstanz. Durch die Analyse der Tänze – ihrer tänzerisch-choreographischen Strukturen und Bewegungsmuster, ihrer projizierten Rollenbilder und Geschlechteraufstellung, sowie der Nutzung von Gegenständen und Kostümen – eröffnen sich Bilder von Kulturen: Gesellschaftliche Vorstellungen sowie kulturelle und politische Ideologien, die eine Vielfalt von Rückschlüssen und Einblicke in die jeweilige Zeitepoche und den jeweiligen Kulturkreis erlauben. Kurzum: Kunst und Sprache sind das Innerste unserer Kultur. Sie enthalten unsere Gedanken, unsere Art, die Welt zu sehen. Hochinteressant und aufschlussreich im Hinblick auf die Kultur ist dabei auch, wie die Tänze gesteuert, verteilt und von einem Publikum rezipiert werden.
Was also ist die Funktion von Volkstänzen?
Volkstanz ist sinnliche Gemeinsamkeit – Rausch - kollektives Erleben. Ob die Performance gemacht wird, um den Göttern zu gefallen, ob sie ein wichtiges Ereignis markiert oder ein Gesellschaftstanz sein soll – die Funktion der Volkstänze pendelt im regelmäßigen Rhythmus zwischen soziokultureller, politischer Wirksamkeit und Unterhaltung hin und her.
Wenn ich die verschiedenen Volkstänze auf meinem Computer- Screen nebeneinanderstelle, bekommen die Volkstänze für mich plötzlich eine eigenartige Absurdität. Die verschiedenen Volkstänze fangen an sich einem Schauspiel zu ähneln, in dem die spezifischen Merkmale der jeweiligen Kultur zur Schau gestellt werden. Mit dem öffentlich projizierten Bild der eigenen Gruppe auf meinem YouTube Browser entsteht ein Selbstbild, eine soziale Identität und damit die Illusion einer Zugehörigkeit. Kategorisiert und katalogisiert werden die einzelnen Individuen ihrer Vieldeutigkeit beraubt. Damit entstehen nach außen hin kulturelle Stereotypen, Genderrollen, Schönheitsideale etc. und der Volkstanz wiederum wird zur Repräsentation eben dieser Stereotypen. Die Performer*innen sind in der Rolle der Repräsentant*innen ihrer Gruppe. Besonders deutlich ist dies in den zu Sowjetzeiten stark instrumentalisierten ukrainischen Volkstänzen wie zum Beispiel Веснянка (Spring Song)[5] zu sehen. Sie erinnern fast an einen Werbeclip aus dem Fernsehen, wo es um die Vorteile eines Waschmittels geht. Alles glänzt und ist schön. Die oben benannte spezifische historische Ausdrrucks- und Erscheinungsform des künstlerischen Volksschaffens wird zu einem Spiel von Illusionen und Phantasmen. Der Volkstanz wird hier zur Simulation eines Bildes der perfekten Gesellschaft, die es so aber noch nie gegeben hat.
Der Volkstanz scheint mir in sich ambivalent und trägt verschiedene Funktionen in sich. Der Volkstanz bereitet nicht nur Spaß und Gemeinsamkeit, ist nicht nur eine Stimme des kulturellen Ausdrucks und ein gesellschaftliches Spiegelbild, sondern propagiert gleichzeitig auch Ideale und Gesellschaftsmodelle.
Das Theater, in welcher Form auch immer, ist in unserer Gesellschaft ein Raum, in dem Perspektiven für Gegenwart und Zukunft entwickelt werden. Schechner schreibt, dass „Bühnen in erster Linie leere Räume [sind], bereit von imaginierten Realitäten bevölkert zu werden.“ [8] Er folgert weiter: „Die Bühne des Tanzes, heute wie gestern, stellt einen Rahmen dar, in dem neue gesellschaftliche Ideen verstärkt und verbreitet werden können; in dem die Konstruktion von Identität und Normen zwischen dem sozialrechtlich Zulässigen und dem, was jenseits der Norm liegt, bewegt, verhandelt oder propagiert werden und die etablierte Aufteilung des Sinnlichen in Form von Neuverhandlung, des Verhältnisses von Sehen, Sagen, Tun und Sein stattfinden und in Frage gestellt werden kann.“[9]
Der Volkstanz hat eine Form, einen Inhalt, kontextualisiert sich in seiner Gesellschaft und propagiert ein Bild nach außen. Vielleicht sogar ein wenig ähnlich wie meine zeitgenössischen Choreographien sich auch in unserer Gegenwart kontextualisieren. Der Unterschied ist, dass ich in meiner Choreographie nicht für ein ganzes Volk spreche.
(Volks)TANZ Heute
Der Volkstanz ist heute in den meisten Regionen der Welt im Schuhkarton der hintersten Reihe verschwunden. Bewundern kann man ihn am ehesten im YouTube-Museum oder bei traditionellen Volksfesten, die es tatsächlich noch immer gibt. Problematisch wird es nur, wenn der Volkstanz von gestern heute aus der Schublade geholt wird und als Volkskultur gehandelt wird. Das ist er nicht und kann es nicht sein. Der Volkstanz ist ein spannendes Kulturgut einer vergangenen Zeit. Es lohnt sich, ihn weiterleben zu lassen, aber sicherlich nicht indem er heute praktiziert wird, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert.
In der globalisierten Welt des 21. Jh. stellt sich die Frage, in wie weit landestypische Merkmale bedeutsame Bausteine regionaler und nationaler Identität sein können. Mit seiner dem Volkstanz inhärenten Funktion, sich auf lokale Regionen zu beziehen, ist es schwierig, die transnationalen Identitäten von heute in einer multilateralen Welt widerzuspiegeln.
Heute gibt es – medial beschleunigt – längst transnationales Tanzvokabular und transnationale Tanzpraktiken, die sich stark an den kulturellen Identitäten verschiedener Gruppierungen oder popkultureller Communities orientieren. Heute sehen wir internationale Tänze, die sich dank Internetplattformen wie TikTok über den gesamten Globus viral verbreiten und ein Gruppengefühl ähnlich wie im Volkstanz herstellen. Die Dance Challenge von Jerusalema [10] wird auf dem gesamten Globus in unzähligen Abwandlungen getanzt und könnte als populärer Volkstanz von heute durchgehen. Aber auch alte Volkstänze wie Zaouli [11] werden auf TikTok [12] wieder ausgegraben und in Dance Challenges neu interpretiert.
Was ist mit Volkstanz morgen?
Wie sollen wir morgen Volkstanz praktizieren? Als Fun-to-practise „altes Kulturgut“ einer längst vergangenen Welt? Oder integriert in moderner Tanzpraxis?? Vielleicht so wie sich die alte wertvolle Brosche unserer Oma sich auf einem modischen Sweatshirt von heute ganz cool tragen lässt? Dann würde ich mich freuen, wenn der Volkstanz unter uns weiterlebte. Dann müssen wir auch nicht weinen, wenn in ein paar Jahren die letzten praktizierenden Volkstänzer*innen aussterben und wir vergessen haben, wie es geht.
Volkstanz hat immer in einem sozialen Kontext stattgefunden. Die Frage ist in erster Instanz: Wie wollen wir tanzen? Als Individuum, als Duett, als Kollektiv, als chorisches Etwas, gecopied und gepastet, collagiert, zitiert… Wo soll die Frau stehen? Links oder rechts vom Mann? Ist das noch eine relevante Frage? Oder müssen wir sie heute vielleicht etwas anders stellen: Was ist unsere „Fiktion“ für unser Gesellschaft von morgen? Wie wollen wir Gender, das Individuum und die Gruppe repräsentieren?
Dazu sollten wir uns fragen, was die gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen und politischen Ideen sind, die wir spinnen wollen, um eine lebenswerte Gesellschaft des Miteinander in einer globalisierten und vernetzen Gesellschaft des 21. Jh. von morgen zu gestalten. Was sind die Fragen dieser Generation und wie kann der Folks (Leute)- oder Volks - Tanz, also das, was wir Menschen tanzen, eine Rolle in der Gemeinschaftsbildung einer globalisierten Gesellschaft von morgen spielen?
[1]Vgl.Dr.Walsdorf,Hanna,Vortrag"Volkstanz_Tradition“,Letzter-Zugriff-19.03.2021, https://www.tanzfonds.de/media/TE_projekte/te106_heute_volkstanzen/Vortrag_Walsdorf_Volkstanz_Tradition.pdf
[2]. Basil, Prya (2019), Gastfreundschaft, 1. Auflage, Insel Verlag, Berlin, S. 44
[3] YouTube, Blankeneser Fischertanz, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/shorts/dsMh_5IMO4c
[4] YouTube, Ghasem abadi Веснянка (Spring Song), Letzter Zugriff 19.03.2021,
[5] YouTube, Веснянка (Spring Song), Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=MJN5uSCmi_U
[6] YouTube, Sabar, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=nVmbkNxo_S0&feature=emb_imp_woyt
[7]. Vgl. Küba Gümüsay, Kürba (2020), Sprache und Sein, 5. Auflage, Hanser Berlin in der Carl Hanser GmbH & Co.KG, München, S.18
[8] Vgl. Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 49
[9] Vgl. Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 28
[10] YouTube, 10 Best Jerusalema Dance Moves|WORLDWIDE, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=1zl3f6zwc-M
[11] YouTube, Zaouli de Manfla, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=jZ572yLH9sc&feature=emb_imp_woyt
[12] YouTube, THE BEST TOP 17 AFRICAN DANCE CHALLENGE TIK TOK, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=tO35MvcxS80
Was ist überhaupt ein Volkstanz? Wann wird ein Tanz ein Volkstanz oder zum Tanz, der von Volksgruppen getanzt wird?! Wer schreibt fest, was ein Volkstanz ist, und wie the f*ck entsteht ein Volkstanz?
Während meiner Volkstanzrecherche habe ich mich auf YouTube mithilfe dessen Algorithmus durch das Netz gebrowst und mich von einem Volkstanz zum nächsten geklickt. Das Spektrum an Tanzschritten, Farben, Kostümen war schier überwältigend und ich verlor mich mit ausgiebiger Freude darin!
Schnell konnte ich feststellen: Heute wie gestern, zu jeder Zeit, in jedem Teil der Welt und in jeder Kultur kreieren Menschen Tänze und Theater. Volkstänze sind vom Volk überlieferte Tänze. Sie variieren von Ort zu Ort, von Kultur zu Kultur und von Epoche zu Epoche. Sie sind das Ausleben von Geschichten, das Darstellen von vergangenen Ereignissen, Erfahrungen, Erinnerungen, Fantasien, Träumen...
Doch mit jedem meiner Klicks verschwammen die vermeintlich klar unterscheidbaren Kulturen bis ich mich in einem digitalen Smog aus Kategorie-Labyrinthen und vielen Fragezeichen verlor. Ich fing an mich zu fragen: Welcher Tanz gehört zu wem, wo sind die Grenzen und wer bestimmt sie? Gibt es hier Eigentumsrechte? Wann tanzt das Volk, der Volkskörper – und wann tanzt eine Gruppe von Menschen, Leute, also: folks? Menschen wie du und ich, also wir? Und ist meine Arbeit als Choreographin dann auch irgendwie Volkstanz? Die Begrifflichkeiten und Kategorisierungen wurden für mich immer unklarer und verschwommener.
Viele Monate, Bücher und Gespräche später merke ich: Der Begriff Volkstanz ist irgendwie eine problematische und uneindeutige Kategorie. Traditionelle Volkstänze werden heute, zumindest in Europa, meist nur noch in geschützten, traditionsorientierten Communities gelehrt und getanzt. Das Volk tanzt heute, zumindest in meinen kulturellen Kreisen, auf jeden Fall keinen „Volkstanz“ mehr. Stattdessen tanzen wir so etwas wie „Folks-Tanz“ also „Leute- Tanz“: Das, was wir nachts im Club oder in der aktuellen TikTok Dance - Challenge machen, ist aber im Lehrbuch auf jeden Fall nicht als Volkstanz katalogisiert.
Was ist denn jetzt aber ein Volkstanz?
Wenn ich in YouTube umherklicke, bekomme ich deutschen, iranischen oder ukrainischen Tanz in einer Fertigpackung. Darauf skizziert: eine klar formulierte Adresse mit Vor - und Nachnamen wie auf einer Visitenkarte, die das klar umrissene Bild eines Volkes projiziert. Nach ein paar Klicks bröckelt dieses Bild aber wieder. Derselbe Volkstanz erscheint in meiner YouTube Playlist in verschiedenen Versionen und Kopien, mit jeweils anderen Kostümen, variierenden choreographischen Strukturen, Genderrollen und geographischen Verortungen. Nichts stimmt mehr überein!
Der in der Überschrift als vermeintliches Original angezeigte „Deutsche Volkstanz“ zerbröckelt vor meinen Augen. Schnell entpuppt sich, dass das YouTube-Video eine Konstruktion ist. Die fein gerahmte fixed mise en scène meines YouTube Videos, wo dick oben drübersteht „DEUTSCHER VOLKSTANZ“, entpuppt sich als nicht ganz authentisch. Ich bin genervt. Ich suche immer noch den „echten“ Volkstanz. Dann frage ich mich, ob der Volkstanz an sich vielleicht selbst auch nur eine Konstruktion ist, genau wie das YouTube-Video.
Ist der „DEUTSCHE VOLKSTANZ“ also eine Fiktion?
Gehen wir zurück zu den Anfängen der Volkstänze: Die Überlieferung von Volkstänzen erfolgte lange Zeit mündlich. In Europa änderte sich das im Zuge der Industrialisierung, als Volkstänze verschriftlicht und im Folgenden mit dem Buch in der Hand weitervermittelt wurden. Dies markierte einen Bruch in der Traditionslinie des Volkstanzes: Damit entstand nicht nur eine Festschreibung einer an sich dynamischen Kulturpraktik, sondern auch eine Einschreibefläche für ideologische Kodierungen und politische Instrumentalisierungen. [1] Der Volkstanz wurde damit zum Aushängeschild eines ganzen Volkes und bequem einsetzbar für völkische Narrative und der Fiktion eines homogenen Volkes in Abgrenzung zu anderen „Völkern“.
Schaut man genauer hin, entpuppt sich die Nation jedoch schnell als falscher Begriff, um einen Volkstanz zu katalogisieren. Der Volkstanz spiegelt oft kulturelle Regionen und nicht eine ganze Nation wider; er verknüpft sich mit klimatischen und geographischen Aspekten, lokalen Eigenschaften und spezifischen Bewegungen und Kommunikationsarten.
Es stellt sich also die Frage, ob es so etwas wie ein klar definiertes Volk mit einer klar definierten Tanzvisitenkarte überhaupt gibt.
Kann die Antwort in einem Würstchen liegen? Vielleicht nur insofern, als niemand wirklich weiß oder wissen will, was alles unter der Haut steckt. Auch Identität ist eine Art Mettwurst: Neben dem sichtbarsten Bestandteil, dem Fleisch von Land und Familie, steuert eine Menge fremdes Zeug die Würze bei (auch wenn es vielleicht nicht als solches erkannt werden mag). Sie ist bis zum Platzen voll mit unzähligen Geschichten und durchdrungen vom Geschmack der Historie, die stets zugegen ist, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, dem Ich heimlich Aroma verleiht. (Prya Basil S. 44) [2]
Die Antwort auf die Frage nach dem Original, der reinen Fassung, ergibt sich durch dieses Zitat fast von selbst. Das vermeintliche Original ist ein Mélange von kulturellen Pfaden, die sich immer wieder kreuzen und neu verknüpfen können. Damit liegt bereits eine Interkulturalität in den Komponenten, aus denen Volkstänze geformt und den Strukturen, wie Volkstänze entstanden sind.
Welche Sprache spricht der Volkstanz?
Während ich mir die YouTube Videos ansah, habe mich gefragt: Was erzählen uns diese Volkstänze überhaupt, was sind ihre Geschichten? Was erzählen uns die Choreographien mit ihren Mustern, Schritten und Rhythmen über die Gesellschaft? Und was verkörpern die Performer*innen mit ihren hübsch geschmückten Kostümen?
Viele der Volkstänze erzählen Geschichten. Im Volkstanz sind die Bewegungsformen des Tanzes oft mit implizitem Wissen und expliziten Zuschreibungen verbunden. Volkstänze können Kulturtänze, Beschwörungstänze, Kriegstänze oder auch Tiertänze sein. Bei wichtigen Ereignissen wie Jahreszeitenwechsel hat der Volkstanz eine besonders große Bedeutung. Häufig geht es aber um alltägliche Dinge wie die Arbeit verschiedener Handwerksberufe. Dabei werden bäuerliche Vorgänge, wie zum Beispiel Säen, Ernten, Fischen und Spinnen wiedergegeben. Auch Brautwerbung ist ein beliebtes Thema. Oft werden daraus die Namen der Tänze abgeleitet wie beim Blankeneser Fischertanz [3], obwohl es in diesem Tanz eher um das kennenlernen von Männern und Frauen (wahrscheinlich Fischern..) geht oder aber dem iranischen Ghasem abadi [4] Tanz der die Reisernte thematisiert und nach der Region benannt ist. Andere Tänze sind einfach nach der Art der Musik, der Melodie oder dem Takt wie dem ukrainischen Веснянка (Spring Song) benannt [5] oder dem senegalesichen Sabar [6] der nach der Sabar Trommel benannt ist.
Schaut man sich die Volkstänze auf globaler Ebene an, wird deutlich, wie die Kultur in den verschiedenen Formen der Volkstänze zum Ausdruck kommt. Die Autorin Kübra Gümüsay sagt in ihrem Buch Sprache und Sein: „Erst im Vergleich der Sprachen wird deutlich, welche Sicht auf die Welt uns anerzogen wird.“ [7] Nicht viel anders ist es im Volkstanz. Durch die Analyse der Tänze – ihrer tänzerisch-choreographischen Strukturen und Bewegungsmuster, ihrer projizierten Rollenbilder und Geschlechteraufstellung, sowie der Nutzung von Gegenständen und Kostümen – eröffnen sich Bilder von Kulturen: Gesellschaftliche Vorstellungen sowie kulturelle und politische Ideologien, die eine Vielfalt von Rückschlüssen und Einblicke in die jeweilige Zeitepoche und den jeweiligen Kulturkreis erlauben. Kurzum: Kunst und Sprache sind das Innerste unserer Kultur. Sie enthalten unsere Gedanken, unsere Art, die Welt zu sehen. Hochinteressant und aufschlussreich im Hinblick auf die Kultur ist dabei auch, wie die Tänze gesteuert, verteilt und von einem Publikum rezipiert werden.
Was also ist die Funktion von Volkstänzen?
Volkstanz ist sinnliche Gemeinsamkeit – Rausch - kollektives Erleben. Ob die Performance gemacht wird, um den Göttern zu gefallen, ob sie ein wichtiges Ereignis markiert oder ein Gesellschaftstanz sein soll – die Funktion der Volkstänze pendelt im regelmäßigen Rhythmus zwischen soziokultureller, politischer Wirksamkeit und Unterhaltung hin und her.
Wenn ich die verschiedenen Volkstänze auf meinem Computer- Screen nebeneinanderstelle, bekommen die Volkstänze für mich plötzlich eine eigenartige Absurdität. Die verschiedenen Volkstänze fangen an sich einem Schauspiel zu ähneln, in dem die spezifischen Merkmale der jeweiligen Kultur zur Schau gestellt werden. Mit dem öffentlich projizierten Bild der eigenen Gruppe auf meinem YouTube Browser entsteht ein Selbstbild, eine soziale Identität und damit die Illusion einer Zugehörigkeit. Kategorisiert und katalogisiert werden die einzelnen Individuen ihrer Vieldeutigkeit beraubt. Damit entstehen nach außen hin kulturelle Stereotypen, Genderrollen, Schönheitsideale etc. und der Volkstanz wiederum wird zur Repräsentation eben dieser Stereotypen. Die Performer*innen sind in der Rolle der Repräsentant*innen ihrer Gruppe. Besonders deutlich ist dies in den zu Sowjetzeiten stark instrumentalisierten ukrainischen Volkstänzen wie zum Beispiel Веснянка (Spring Song)[5] zu sehen. Sie erinnern fast an einen Werbeclip aus dem Fernsehen, wo es um die Vorteile eines Waschmittels geht. Alles glänzt und ist schön. Die oben benannte spezifische historische Ausdrrucks- und Erscheinungsform des künstlerischen Volksschaffens wird zu einem Spiel von Illusionen und Phantasmen. Der Volkstanz wird hier zur Simulation eines Bildes der perfekten Gesellschaft, die es so aber noch nie gegeben hat.
Der Volkstanz scheint mir in sich ambivalent und trägt verschiedene Funktionen in sich. Der Volkstanz bereitet nicht nur Spaß und Gemeinsamkeit, ist nicht nur eine Stimme des kulturellen Ausdrucks und ein gesellschaftliches Spiegelbild, sondern propagiert gleichzeitig auch Ideale und Gesellschaftsmodelle.
Das Theater, in welcher Form auch immer, ist in unserer Gesellschaft ein Raum, in dem Perspektiven für Gegenwart und Zukunft entwickelt werden. Schechner schreibt, dass „Bühnen in erster Linie leere Räume [sind], bereit von imaginierten Realitäten bevölkert zu werden.“ [8] Er folgert weiter: „Die Bühne des Tanzes, heute wie gestern, stellt einen Rahmen dar, in dem neue gesellschaftliche Ideen verstärkt und verbreitet werden können; in dem die Konstruktion von Identität und Normen zwischen dem sozialrechtlich Zulässigen und dem, was jenseits der Norm liegt, bewegt, verhandelt oder propagiert werden und die etablierte Aufteilung des Sinnlichen in Form von Neuverhandlung, des Verhältnisses von Sehen, Sagen, Tun und Sein stattfinden und in Frage gestellt werden kann.“[9]
Der Volkstanz hat eine Form, einen Inhalt, kontextualisiert sich in seiner Gesellschaft und propagiert ein Bild nach außen. Vielleicht sogar ein wenig ähnlich wie meine zeitgenössischen Choreographien sich auch in unserer Gegenwart kontextualisieren. Der Unterschied ist, dass ich in meiner Choreographie nicht für ein ganzes Volk spreche.
(Volks)TANZ Heute
Der Volkstanz ist heute in den meisten Regionen der Welt im Schuhkarton der hintersten Reihe verschwunden. Bewundern kann man ihn am ehesten im YouTube-Museum oder bei traditionellen Volksfesten, die es tatsächlich noch immer gibt. Problematisch wird es nur, wenn der Volkstanz von gestern heute aus der Schublade geholt wird und als Volkskultur gehandelt wird. Das ist er nicht und kann es nicht sein. Der Volkstanz ist ein spannendes Kulturgut einer vergangenen Zeit. Es lohnt sich, ihn weiterleben zu lassen, aber sicherlich nicht indem er heute praktiziert wird, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert.
In der globalisierten Welt des 21. Jh. stellt sich die Frage, in wie weit landestypische Merkmale bedeutsame Bausteine regionaler und nationaler Identität sein können. Mit seiner dem Volkstanz inhärenten Funktion, sich auf lokale Regionen zu beziehen, ist es schwierig, die transnationalen Identitäten von heute in einer multilateralen Welt widerzuspiegeln.
Heute gibt es – medial beschleunigt – längst transnationales Tanzvokabular und transnationale Tanzpraktiken, die sich stark an den kulturellen Identitäten verschiedener Gruppierungen oder popkultureller Communities orientieren. Heute sehen wir internationale Tänze, die sich dank Internetplattformen wie TikTok über den gesamten Globus viral verbreiten und ein Gruppengefühl ähnlich wie im Volkstanz herstellen. Die Dance Challenge von Jerusalema [10] wird auf dem gesamten Globus in unzähligen Abwandlungen getanzt und könnte als populärer Volkstanz von heute durchgehen. Aber auch alte Volkstänze wie Zaouli [11] werden auf TikTok [12] wieder ausgegraben und in Dance Challenges neu interpretiert.
Was ist mit Volkstanz morgen?
Wie sollen wir morgen Volkstanz praktizieren? Als Fun-to-practise „altes Kulturgut“ einer längst vergangenen Welt? Oder integriert in moderner Tanzpraxis?? Vielleicht so wie sich die alte wertvolle Brosche unserer Oma sich auf einem modischen Sweatshirt von heute ganz cool tragen lässt? Dann würde ich mich freuen, wenn der Volkstanz unter uns weiterlebte. Dann müssen wir auch nicht weinen, wenn in ein paar Jahren die letzten praktizierenden Volkstänzer*innen aussterben und wir vergessen haben, wie es geht.
Volkstanz hat immer in einem sozialen Kontext stattgefunden. Die Frage ist in erster Instanz: Wie wollen wir tanzen? Als Individuum, als Duett, als Kollektiv, als chorisches Etwas, gecopied und gepastet, collagiert, zitiert… Wo soll die Frau stehen? Links oder rechts vom Mann? Ist das noch eine relevante Frage? Oder müssen wir sie heute vielleicht etwas anders stellen: Was ist unsere „Fiktion“ für unser Gesellschaft von morgen? Wie wollen wir Gender, das Individuum und die Gruppe repräsentieren?
Dazu sollten wir uns fragen, was die gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen und politischen Ideen sind, die wir spinnen wollen, um eine lebenswerte Gesellschaft des Miteinander in einer globalisierten und vernetzen Gesellschaft des 21. Jh. von morgen zu gestalten. Was sind die Fragen dieser Generation und wie kann der Folks (Leute)- oder Volks - Tanz, also das, was wir Menschen tanzen, eine Rolle in der Gemeinschaftsbildung einer globalisierten Gesellschaft von morgen spielen?
[1]Vgl.Dr.Walsdorf,Hanna,Vortrag"Volkstanz_Tradition“,Letzter-Zugriff-19.03.2021, https://www.tanzfonds.de/media/TE_projekte/te106_heute_volkstanzen/Vortrag_Walsdorf_Volkstanz_Tradition.pdf
[2]. Basil, Prya (2019), Gastfreundschaft, 1. Auflage, Insel Verlag, Berlin, S. 44
[3] YouTube, Blankeneser Fischertanz, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/shorts/dsMh_5IMO4c
[4] YouTube, Ghasem abadi Веснянка (Spring Song), Letzter Zugriff 19.03.2021,
[5] YouTube, Веснянка (Spring Song), Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=MJN5uSCmi_U
[6] YouTube, Sabar, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=nVmbkNxo_S0&feature=emb_imp_woyt
[7]. Vgl. Küba Gümüsay, Kürba (2020), Sprache und Sein, 5. Auflage, Hanser Berlin in der Carl Hanser GmbH & Co.KG, München, S.18
[8] Vgl. Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 49
[9] Vgl. Schechner, Richard (2006) Performance Studies - an introduction, 2nd Edition, Routledge, New York and London, S. 28
[10] YouTube, 10 Best Jerusalema Dance Moves|WORLDWIDE, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=1zl3f6zwc-M
[11] YouTube, Zaouli de Manfla, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=jZ572yLH9sc&feature=emb_imp_woyt
[12] YouTube, THE BEST TOP 17 AFRICAN DANCE CHALLENGE TIK TOK, Letzter Zugriff 19.03.2021, https://www.youtube.com/watch?v=tO35MvcxS80